Cover des gedruckten Buches Blick vom Rathausturm auf das Innere des Rathauses, Stadtarchiv Karlsruhe 8/Alben 5 Bd.7, S.
   

3. Auswertung und Dokumentation

3.1

Männliche Zeitzeugen, die das Kriegsende in Südwestdeutschland –
Schwerpunkt Karlsruhe und Umgebung – erlebten

3.1.3

Vollständiger Bericht eines Karlsruher Zeitzeugen, der bei Kriegsende 16 Jahre alt war und sich vom Dezember 1944 bis in den Juni 1945 in Flehingen aufhielt.

 

Fragen 3 und 4

„Der Aufenthalt in Flehingen war ursprünglich nicht als Evakuierung geplant. Mein Vater, damals 52, war nach einem Luftangriff [auf Karlsruhe] im städtischen Krankenhaus wegen einer Rauchvergiftung und anschließenden Magenblutungen. Nach einem weiteren Luftangriff wurde die Männerabteilung des Krankenhauses in das Schloß in Flehingen verlegt. Da die Erkrankung lebensgefährlich war, wollten meine Mutter und ich meinen Vater besuchen, blieben dann dort, und aus dem ursprünglichen Besuch wurde ein mehrmonatiger Aufenthalt im Haus eines Bauern, bei dem wir unterkamen.

Der Aufenthalt in Flehingen bedeutete für mich, daß ich von vielem verschont blieb, was auf meine Altersgenossen in Karlsruhe zukam. Im Herbst ’44 waren wir schon zum Schanzen in die Vogesen geschickt worden, anschließend zum Bau von Panzergräben bei Forchheim, wir wurden nach Luftangriffen mit der Hitlerjugend zu Aufräumarbeiten eingesetzt usw. Später wurden meine Altersgenossen zu weiteren Einsätzen herangezogen, z.B. zu Meldediensten, verschiedene waren beim Volkssturm. In Flehingen blieb ich lange unbehelligt. Im März ’45 bekam ich für April eine Einberufung in das sogenannte Wehrertüchtigungslager zur vormilitärischen Ausbildung. Das Lager wäre sicher direkt in den Volkssturm übergegangen, doch war Flehingen bereits besetzt, bevor ich in das Lager sollte. Außerdem bekam ich wenige Tage vor der Besetzung Flehingens durch die Franzosen eine Aufforderung durch die Hitlerjugend, mich in einem Ort in der Nähe von Pforzheim zu melden, zum Zweck der ,Rückführung‘ der ,deutschen Jugend‘ vor den Alliierten. Da zu erkennen war, daß es sich in Wirklichkeit um eine Einberufung zum Volkssturm handelte, ging ich nicht hin. Weitere Folgen hatte meine Weigerung nicht, da in der Folge keine Hitlerjugendführer oder Parteifunktionäre im Dorf mehr zu sehen waren.

Insgesamt fühlten wir uns in den Wochen und Monaten vor Kriegsende in Flehingen relativ sicher, vor allem im Krankenhaus, in dem ich jederzeit nach Belieben ein- und ausgehen konnte. Erwähnenswert ist, daß keiner der Patienten, auch mein Vater nicht, sich von dort entlassen ließ und alle dort das Kriegsende abwarteten. Das Krankenhaus war fast eine Sicherheitszone, die übrigens auch von den Franzosen nach ihrem Einmarsch respektiert wurde.“

Frage 5

„Der Einmarsch war am 3. April, dem Dienstag nach Ostern. In der Woche vorher kamen Soldaten der Wehrmacht auf dem Rückzug durch das Dorf, übernachteten zum Teil. Es handelte sich offenbar um einen ungeordneten Rückzug. Vorbereitungen für einen Widerstand waren nicht zu erkennen. Bei uns übernachteten zwei Soldaten, die ein Motorrad hatten. Sie wußten nicht, wie alles weitergehen sollte und wollten versuchen, sich nach Hause, nach Südbaden durchzuschlagen. Die Bevölkerung war freundlich, wollte aber, daß die deutschen Soldaten das Dorf möglichst schnell verlassen sollten. An den Osterfeiertagen waren keine deutschen Soldaten mehr im Dorf und es herrschte ein gespenstischer Frieden. Vorher waren noch am Dorfeingang und Dorfausgang Panzersperren errichtet worden, von wem, weiß ich nicht mehr. An die Anwesenheit von Parteifunktionären kann ich mich nicht erinnern. Außerdem wurde im Dorf eine Brücke über den Bach, in dessen Nähe wir wohnten, gesprengt. Wir meinten zuerst, es haben Granaten eingeschlagen. Unter diesem Eindruck habe ich die letzten Nächte im Untergeschoß eines Eckturms des Schlosses verbracht, in dessen Mauern ich mich sicherer fühlte.“

Frage 6

„In den letzten Tagen vor dem Einmarsch fürchteten alle, es würden bei uns Kampfhandlungen stattfinden. Deshalb waren alle erleichtert, als die letzten deutschen Soldaten kampflos abzogen, hatten aber auch Mitleid mit ihnen, und man kam sich schäbig vor bei dem Wunsch, sie los zu sein.

Man konnte sich nicht vorstellen, wie es weitergehen sollte, aber im Augenblick kam es nur darauf an zu überleben. Ich selbst wußte, daß es eine Frage von wenigen Tagen war, ob man mich zum Volkssturm oder sonstwohin holen würde, und hoffte, diese paar Tage zu überleben.

Wir hofften, bald nach Karlsruhe zurückkehren zu können, wußten aber nicht, was wir dort vorfinden würden. Die deutsche Kriegspropaganda hatte alle möglichen Greuel als Folge der Besetzung vorausgesagt. Soweit dies die Russen anbelangte, schien dies glaubhaft, aber nicht im Hinblick auf die Amerikaner, von denen man eine humane Behandlung erwartete und deren baldigen Einmarsch man letztendlich erwartete und erhoffte.“

Frage 7

„Der erste Einduck war Erleichterung, weil alles kampflos gegangen war. Der nächste war Schock und Enttäuschung, weil man Amerikaner erwartet hatte und zunächst nicht wußte, wer die französischen, hauptsächlich nordafrikanischen Soldaten waren, die irgendwie furchterregend aussahen. Seltsam war auch, daß das Gros von mehreren hundert Soldaten zu Fuß kam, wo man doch wußte, daß die Amerikaner alle motorisiert waren. Die Abteilung verteilte sich auf das ganze Dorf, ein Teil zog nach einer Pause weiter, ein anderer Teil quartierte sich in den Häusern ein. Später gab es Berichte von Plünderungen und Vergewaltigungen. Ich selbst habe solche nicht beobachtet. Bei uns im Haus war ein französischer Offizier, ein Elsässer, mit dem wir uns veständigen konnten, und der zwar unfreundlich, aber korrekt war.

Ein nordafrikanischer Soldat nahm mein Fahrrad. Für mich war das eine Katastrophe, denn es war mein wertvollster Besitz und einziges Transportmittel. Ich versuchte, es im Keller wegzuschließen, konnte aber im Endeffekt nichts tun, weil der Marokkaner mit dem Gewehrkolben die Kellertür zertrümmerte und eine drohende Haltung einnahm. Er lud dann sein Gepäck auf das Fahrrad und zog damit ab. Einige Zeit darauf kam ein anderer Soldat, offenbar ein Franzose, und brachte das Fahrrad zurück, das einen Platten hatte und wohl als Transportmittel nicht mehr zu gebrauchen war.

Nach dem Einmarsch waren wir überhaupt nicht mehr informiert über die weiteren Vorgänge. Es gab keine Zeitungen. Radiogeräte mußten im Rathaus abgeliefert werden und wurden zerstört. Z. B. wußten wir nichts über den Selbstmord Hitlers. Vom Kriegsende am 8. Mai erfuhr ich erst an einem der folgenden Tage durch einen Anschlag der Militärbehörden am Schwarzen Brett.“

Frage 8

„Lebensmittel wurden versteckt; eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Ich besaß noch ein Uniformstück der Hitlerjugend, eine sog. Kluft, die ich auch außerhalb des Dienstes in der HJ trug, da Kleidungsstücke knapp waren. Meine Mutter entfernte davon die Armbinde und die Achselstücke, sodaß es ganz zivil aussah, übersah aber offenbar an der Brusttasche ein Schießabzeichen und ein Sportabzeichen mit dem Hakenkreuz. Der französische Offizier, der ins Haus kam, ging sofort auf den Schrank zu, sah die Kluft und fragte, was das sei, und wollte wissen, ob ich Soldat sei usw. Der Schrecken war groß. Das Ganze hatte keine weiteren Folgen. Der Offizier nahm nur das Schießabzeichen als Andenken mit, das andere war ihm nicht hübsch genug.

Ich hatte später noch mehrmals unangenehme Situationen zu bestehen, da ich immer wieder versichern mußte, ich sei nicht in der Wehrmacht. In dieser Lage hatte ich Angst, eingesperrt zu werden oder in Gefangenschaft geführt zu werden.“

Frage 9

„Es dauerte noch einige Wochen, bis ich mit meinen Eltern nach Karlsruhe zurück konnte. Da man Passierscheine benötigte, die wir nicht hatten, taten wir das mit Fahrrädern, die ganze Strecke auf Feldwegen, um französischen Kontrollen und Posten auszuweichen. Das Mietshaus, in dem wir in Karlsruhe wohnten [Brauerstraße], stand noch. Schäden haben mein Vater und ich in Eigenreparatur beseitigt. Die Nahrungssituation begann jetzt erst, richtig schlecht zu werden. Mit Hilfe der Großeltern, die auf dem Lande wohnten, und, nach einiger Zeit, von Verwandten in Amerika kamen wir über die Runden.

Die Schulen in Karlsruhe waren noch geschlossen. Die Wiedereröffnung erwartete ich mit dem Gefühl, endlos viel Zeit verloren zu haben. In der Zwischenzeit arbeitete ich in einer Gärtnerei, und zwar deshalb dort, weil ich damit auch eine Bezugsquelle für Gemüse, Kartoffeln und Obst hatte. Meine Schule, das Goethe-Gymnasium, eröffnete nach und nach, für mich im Mai 1946. Seit September 1944 war kein Unterricht mehr gewesen, und ich war nun als 17-jähriger in der Obertertia [Klasse 9].“

Frage 10

„Ein Gefühl der Bedrohung ähnelt manchmal dem aus der Zeit des Kriegsendes, aber im Grund kann ich die Frage nicht beantworten.“

 
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Kriegsende 1945 | Zeitzeugen der Karlsruher Region erzählen | Letzte Änderung: 30. März 1997
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