Cover des gedruckten Buches Copyright Erich Bauer, Stadtarchiv Karlsruhe 8/Alben 5 Bd.7, S. 823
   

3. Auswertung und Dokumentation

3.6

Zeugen von Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten

 

Viele Schülerinnen und Schüler aus unserer heutigen „Schülergeneration“ sind die Enkel von Frauen und Männern, die das Kriegsende auf der Flucht aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, in diesen Gebieten selbst oder im heutigen Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien, im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien oder wo immer sonst in den von Deutschen besiedelten Gebieten im Osten erlebten. Wie sich gerade im Geschichtsunterricht zeigt, weiß diese Generation der Enkel oftmals nichts, vielfach nur Ungenaues und nur selten Näheres über die Herkunft ihrer Großeltern. Auch vor diesem Hintergrund gewinnt die Befragung von Zeitzeugen ihren besonderen Wert, hilft sie gegebenenfalls doch, die geschichtliche Identität der eigenen Familie zu sichern.

Es geht hier nicht darum, irgendeinem Revanchismus das Wort zu reden; der für eine friedliche Zukunft in Europa so notwendige und längst überfällige Dialog vor allem mit den jungen Demokratien Polen und Tschechien kann aber nicht unter Ausblendung der Geschehnisse, die hier als „Flucht und Vertreibung“ bezeichnet werden, stattfinden, wenn dieser Dialog denn einen Sinn haben soll.

Eine 1945 12 1/2-jährige Zeitzeugin hat einen ausführlichen Bericht gegeben, der hier in voller Länge zitiert sei. Die Zeugin erlebte das Kriegsende in ihrem Heimatort Waldenburg/Schlesien.

Frage 5

„Am 5. Mai 1945 wurde uns mitgeteilt, daß das Kampfgebiet sich auf unsere Stadt ausweitet. Wir möchten bitte Waldenburg verlassen. Was aber nur zu Fuß geschehen kann. Es fahren weder Bus noch Bahn. Als wir unser Bündel gepackt hatten, hörte man schon die ersten russischen Panzer kommen. Uns blieb nur noch der Weg in den Keller. Zum Glück kam es zu keinen Kämpfen, denn die deutschen Soldaten hatten die Stadt verlassen.“

Frage 6

„Mit großer Angst, da in unseren Vororten vielen Menschen solche Grausamkeiten widerfahren sind, die ich heute noch vor Augen habe, daher nicht schildern möchte.“

Frage 7

„Die erste Besatzung war russisch. Die Begegnung war furchtbar. Plünderungen, Vergewaltigung; bei Verweigerung drohte oft der Tod. Später erfolgte die endgültige Besatzung, die polnische. Sie setzte diese grausamen Dinge fort. Die erste Verordnung war, Radios und Fahrräder abgeben, weiße Armbinden tragen, Ausgang von 6–20 Uhr.“

Frage 8

„Das einzige, was wir besaßen, war die Uniform der Hitlerjugend, da es Pflicht war, dieser beizutreten. Die Uniform haben wir selbstverständlich vernichtet. Wir hatten Bekannte im katholischen Pfarrhaus. Dort brachten wir unsere Wertsachen in Sicherheit. So konnten wir später ab und zu etwas auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Man kann sagen, dieses rettete uns vor dem Verhungern.“

Frage 9

„Wer einen Lebensmittelvorrat hatte, der einigermaßen bis zur Ernte reichte, konnte überleben, denn dann konnte man auf den Feldern nach übriggebliebenen Früchten suchen. Das bedeutete immer ein langer Marsch[!], um aufs Land zu kommen. Als es dann später den Schwarzmarkt gab, wir mit Glück etwas Geld für unsere Sachen bekamen, denn oft hat man sie uns aus der Hand gerissen, ging es ein wenig besser. Die Wohnung wurde den meisten Deutschen genommen. Da blieb oft nur der Einzug in eine Dachkammer. Meine Mutter und wir Kinder, 4 an der Zahl, hatten das Glück, ein kleines Zimmer zu bekommen. Schule war für uns verboten. Privatunterricht bei ehemaligen Lehrern wurde schwer bestraft. Arbeit für Deutsche gab es nicht. Wurden Leute zum Arbeiten gebraucht, holte man diese von der Straße. Außer Essen gab es dafür nichts. Trotz allem konnte derjenige froh sein, sich mal sattessen zu können.“

Frage 10

„Vergessen kann man das damals Erlebte nicht. Dazu müßte wohl jetzt, nach 50 Jahren, endlich mal ein Schlußstrich gezogen werden. Gebüßt haben wir doch damals genug. Man hatte uns doch das Liebste genommen, die Heimat. Straße für Straße evakuiert. Im August 1946 waren wir an der Reihe. Da hieß es: in zwei Stunden haben alle auf der Straße zu stehen. Es dürfen nur die notwendigsten Dinge mitgenommen werden, aber keine neuen Sachen. Als alle vertreten waren, ging es los. Das bange Gefühl kann sich keiner vorstellen, zu wissen, das alles nicht wiederzusehen. So ging es nun in ein Sammellager, eine ehemalige Schule. Dort ging es erst mal durch eine Kontrolle. Wer etwas Neues dabei hatte, mußte es abgeben. Wer sich weigerte, was wohl 2 von den Leuten taten, hat man erschossen. Wir mußten eine Nacht bleiben, viele in einem Raum. Schlafen konnte keiner vor Angst. Am anderen Morgen ging es auf den Güterbahnhof, dort bekam jeder eine Nummer für den Waggon, Viehwagen, für den er eingeteilt war. Wir hatten Nr. 48. Bevor wir einsteigen durften, wurde erst der Viehmist rausgefegt. Dann ging es los, ins Ungewisse, begleitet von einem schweren Gewitter, das wir gerade hatten. Als der Zug das erstemal hielt, gab es etwas zu essen. Pro Waggon ein Hering und ein Brot. Wir waren 36 Personen im Wagen. Das war doch ein Hohn. Nach 3 Tagen waren wir über die Grenze. Da gab es für jeden etwas zu essen. Wir konnten es nicht fassen. Für jede Familie 1 Brot, 1 Stück Butter und Leberwurst. Wir haben vor Freude geweint. Nach einer Woche waren wir am Ziel: Aurich/Ostfriesland. Von da aus wurden wir auf die umliegenden Orte verteilt. Wir kamen nach Hage in ein Barackenlager. Für Mutter war das furchtbar. Wir mußten auf sie aufpassen, denn sie wollte sich das Leben nehmen. Als sie sich mit diesem Leben abgefunden hatte, begann so langsam für uns ein normales Leben. Bis auf das Heimweh, was uns furchtbar quälte. Mich manchmal noch heute.“

 
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Kriegsende 1945 | Zeitzeugen der Karlsruher Region erzählen | Letzte Änderung: 30. März 1997
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